Kleine Gebrauchsanweisung
Same Procedure: Dies ist keine Bücher-Bestenliste im Blog,
aber es sind besondere, schöne, intelligente und amüsante Bücher, die was mit Kunst zu tun haben.
Ausgezeichnete Lektüre und herrliche Coffee-table-books garantiert. Bücher, die lange einen Platz im Kopf haben und lange im sorgsam kuratierten Regal bleiben.
Gut zu wissen: Der Einfachheit halber sind die Bücher hier, für den Blog, alphabetisch geordnet. Alle sind empfehlenswert.
Viel Spaß beim Verschenken, selber lesen und dem seitenweise Verlieren in Kunst und wundersamen Geschichten drumherum.
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Hans Georg Esch – Pompeji
Aufregende Perspektiven
Pompeji, echt jetzt? Ja, es ist die berühmteste Stadt der Antike und nein, noch lange nicht ausfotografiert! Der bekannte Architekturfotograf Hans Georg Esch hat sich auf die Reise zu dieser Ruinenstätte begeben. Und hat mit „Pompeji – Der architektonische Blick“ den bekannten Fotografien eine aufregend andere Perspektive hinzugefügt.
In seinen wunderbaren Bildern verbindet Esch das lebendige Neapel mit dem wiederausgegrabenen Pompeji. Plötzlich wird die Runinenstadt zum direkten Nachbar der vier Millionen Metropole Neapel.
Esch hat seine Kamera teilweise mit Drohnen in die Luft geschickt und auf den Auslöser gedrückt. Auf diese Weise werden die modernen Strukturen, Sichtachsen und Wege des Ortes sichtbar. Pompeji, hat Esch mir beim Treffen erzählt, sei eine zeitlose Blaupause. In seinen Fotografien sähe er eine Modernität, wie er sie aus New York oder Barcelona kenne.
Magische Zeitkapsel
Der Vesuv hatte bei einem Ausbruch 79 nach Christus die Stadt und seine 20 000 Bewohner unter sich begraben. Erst 1748 wurde es durch Zufall wieder entdeckt. Bis heute werden bei archäologischen Ausgrabungen noch neue Funde gemacht. Seien es herrliche Fresken oder Bedrückendes über die Lebensbedingungen von Sklaven.
Pompeji ist ein Magnet: allein im vergangenen Jahr strömten fünf Millionen Touristen durch die Ausgrabungsstätten. Für mich ein Grund erstmal gemütlich zu Hause in Eschs Bildern zu schwelgen. Auf seinen außergewöhnlichen Fotografien sind Touristen quasi nicht zu sehen, da er vor oder nach den Öffnungszeiten unterwegs sein konnte.
Allerdings, wenn ich diese traumhaften Fotografien sehe, muss ich doch ehrlich gestehen:
Zu gerne würde ich hinfahren. Sofort
und mich auf die Suche nach einer verlorenen Zeit begeben.
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Alexander Kluge/Anselm Kiefer – „Klugheit ist die Kunst, unter verschiedenen Umständen getreu zu bleiben“
Eine echte Schatztruhe
„Klugheit ist die Kunst, unter verschiedenen Umständen getreu zu bleiben“ – was für ein sperriger Titel, puh! Von aussen kommt es als klassisches Suhrkamp-Exemplar daher. Zwischen den Buchdeckel verbirgt sich allerdings eine wahre Schatztruhe – nicht nur für A. Kluge und A. Kiefer-Enthusiasten. Beide Männer sind sehr belesen, das ist bekannt. Das Werk könnte zu einem weißen-alten-Männer-Ding verrutschen – tut es aber nicht.
Mittels verschiedener kleiner QR-Codes kann ich einminütige Filme abrufen. In denen reden oder lesen Kluge und Kiefer zum Beispiel gemeinsam. Es sind zudem kleine, kluge Filme zu sehen. Die Buchseiten sind mit teilweise unbekannten Werken des Künstlers Anselm Kiefer frisch bebildert.
Gegenwartsdiagnostik
Den Autor und Filmemacher Kluge verbindet mit dem Künstler Kiefer eine „imaginiäre Werkstatt“, wie er sagt.
Es geht um Freundschaft, Berührungspunkte, ihre unterschiedlichen Metiers, den Anspruch an die Kunst und die Frage:
was ist Verlässlichkeit in diesen zerrissenen Zeiten?
Anhand von gemeinsamen Gesprächen zerlegen und verdichten die beiden ihre Themen, nehmen die Lesenden in ihre Gedankenwelt mit. Großes Kino!
Ach, und der sperrig wirkende Titel ist ein Satz von dem Dichter Friedrich Hölderlin (1770 – 1843).
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Träum weiter – Berlin, die 90er Jahre
Hallo Niemandsland
So viele Themen, Konflikte, Ängste und Wünsche. Berlin wird nach dem Mauerfall vor (schon!) 35 Jahren zum Transitraum zwischen Vergangenheit und Zukunft. Mitten in dieser Umbruchszeit gründet sich aus Fotograf:innen der ehemaligen DDR die Agentur OSTKREUZ. Und in dieser aufregenden, weltweit einzigartiges Stadt finden sie ihre Motive.
Sie erzählen in dem Buch „Träum weiter – Berlin, die 90er“ von ungeahnten Möglichkeiten, Hoffnungen und Herausforderungen. Der Bogen spannt sich von der Transformation der Mauerstadt bis hin zur europäischen Hauptstadt.
Archivmaterial mischt sich mit bisher unbekannten Fotografien.
Die Bilder zeigen Aufbruch und Abschied,
das Niemandsland Mitte, Subkulturen, Technoszene und Clubkultur, Hausbesetzungen, Bauprojekte – kurz die komplexe Beziehungen zwischen Menschen und dem Stadtraum, den es neu zu erobern galt.
Ausstellung-Tipp
Das Buch ist zur Ausstellung in der C/O Berlin erschienen. Definitiv ein Must-have für alle die Berlin kennen, lieben, mögen oder auch nicht. Die Ausstellung läuft noch bis zum 22. Januar 2025.
Man muss sich also beeilen, vielleicht aber noch ein Ausstellungstipp, um dem Weihnachtstrubel zu entfliehen? Der Bilderreigen in Buchform bleibt in jedem Fall. Die grandiosen Fotos der Zeit dazwischen können wieder und wieder betrachtet werden.
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Esther Mahlangu – To paint is in my heart
Perfekte Abstraktion
Ein feines coffee-table-book im handlichen Format. Zum Schwelgen in Farbe und Abstraktion. Unglaublich wie vielfältig abstrakte Muster und Farben immer wieder neu kombiniert werden können. Esther Mahlangu war in der Hauptaustellung der 60. Biennale in Venedig dabei, verkauft ihre intensiven Farbkompositionen an Stars wie Mick Jagger oder Oprah Winfrey. In Südafrika ist die inzwischen 88-jährige Künstlerin eine lebende Legende.
Das Buch „To Paint is in my Heart“ ist die herrliche Kombination aus ihren unzähligen Mustern, Farben und einem seltenen Interview. Angefangen hat alles mit Mauern, die sie in ihrem Dorf Mpumalanga bei Johannesburg traditionell bemalte.
Bunte Kollaborationen
1989 wurde sie von einem Pariser Kurator entdeckt. Er lud sie zu einer Ausstellung ein, die dem westlichen Kunstkanon mit neuen Malerei aus dem globalen Süden etwas entgegen setzen sollte. Zwei Jahre später wurde die Südafrikanerin eingeladen ein BMW-Art-Car zu kreieren.
Muster à la Mahlangu
fanden sich schon auf Flugzeugen, Fernsehern, Schuhen oder Teedosen. Sie sind auf Leinwänden in allen möglichen Formaten und immer wieder riesig groß auf Hauswänden zu finden. Die verschönert sie übrigens mit filigranen Hühnerfedern. Gerade erst hat sie eine Fassadenmalerei an der Londoner Serpentine Gallery gestaltet.
Das reich illustrierte Buch ist eine bunte Alltagsflucht in eine andere, gut sortierte Welt.
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Swan Collective – LEXI.exe
Zukunftsthema KI
Wann beginnt echtes Leben im Digitalen? Na, habt ihr euch auch schon mal diese Frage gestellt. Tag für Tag rutschen wir tief und tiefer in diese andere Welt. Verlernen wir zu spüren, lieben und zu leben? Weil wir nicht mehr wissen, was digital und was analog ist?
Felix Kraus alias Swan Collective geht diesen Fragen in seinem Debütroman LEXI.exe auf den Grund. Naja, nicht wirklich. Denn auch er kann kein Licht in dieses permanent gegenwärtige Fragen-Wirrwarr bringen. Sein grandioses Buch bringt das Hirn zum Nachdenken.
Dank wunderbarer Sprache und smarten Wendungen konnte ich seine Zukunfts-Geschichte nicht mehr aus der Hand legen. Es entsteht ein irrer, teilweise dystopischer Sog.
Buch plus App
Die Hauptdarsteller sind die Performance-Künstlerin Lexi van Dijk, der Programmierer Sol und ein Influencer. Es geht um einen tragischen Unfall, eine aussichtslose Liebe, viel Kunst, Natur und Künstliche Intelligenz.
Die reale Welt mischt sich mit der Digitalen.
Herzrasen, Atemnot und Liebe werden zu Phantomen. Oder vielleicht doch nicht? All das liest sich wie im Rausch weg.
On top gibt es eine App mit Auszügen einer Lesung, mehr zum Buch und Autor sowie AR-Gadgets. Felix Kraus hat bereits 2007 das fiktive Kollektiv Swan Collective gegründet, um sich als Autor mit philosophischen Fragen unserer Zeit zu beschäftigen. Eigentlich arbeitet er als Künstler, aber das ist einen eigenen Beitrag wert.
Unbedingt lesen!
– Marine Tanguy – The Visual Detox
Zu dem Thema digital, real passt mein nächster Lese-Tipp: Marine Tanguy erklärt in „The Visual Detox“ wie wir mit der Bilderflut, die uns täglich überrollt umgehen können. Ihr Ansatz ist es nicht auf die Eindrücke zu verzichten, was bei gut 10 000 Bildern am Tag vermutlich nicht funktionieren würden.
Ihr Tipp ist eine Art visuelle Diät zu entwickeln, so wie wir uns mit ausgewogener, gesunder Ernährung beschäftigen. Das Buch ist ein Leitfaden, wie wir es schaffen können, dass die vielen Reize nicht zum Stressfaktor werden. Das beinhaltet beispielsweise
bewusste Auszeiten in der Natur.
Marine Tanguy ist mit 138 Tausend Followern auf Instagram so was wie eine Influencerin. 2015 gründete sie ihre eigene Kunstagentur MTArt Agency, einer erfolgreichen Alternative zum traditionellen Galeriemodel.
Ohne einen Galerieraum zu haben, fördert sie KünstlerInnen, betreut öffentliche Projekte, bringt sie mit einer großen Sammlerschaft, aber auch mit Marken und Institutionen zusammen. Inspirierend.
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Nicole Zepter – Kunst hassen. Eine enttäuschte Liebe
Kleines Wunderwerk
Noch so ein zerlesenes Buch wie das von Swan Collective. Liegt daran, dass ich es ebenfalls im Sommer bei Natali im Beachhouse in der Hängematte und am Meer gelesen habe. Danke Natali ,an dieser Stelle auch nochmal, denn Du hat mir dieses kleine Wunderwerk zum Geburtstag geschenkt. Ich schwelge mit Nicole Zepter und „Kunst hassen“ in längst vergangenen Ausstellungen.
Und die Autorin rennt bei mir mit dem kleinen Bändchen offene Türen ein.
Eine Liebeserklärung?
Schonungslos nimmt sie den Kosmos Kunst auseinander. Zepter will Kunst aus dem Elfenbeinturm befreien. Will, dass das Publikum sich wieder traut eine Haltung zum Gesehenen zu haben. Sie sagt:
Kunst braucht Ehrlichkeit. Wir aber sind nicht ehrlich.
Sie stellt die Frage, was ist gute Kunst? Museen (und Galerien) sind keine heiligen Hallen. Kritiker nicht d i e Halbgötter mit spitzer Feder und überhaupt…
Nicole Zepter stellt die Konformität des Kunstbetriebs auf den Prüfstand, blickt amüsiert hinter die Kulissen des Systems Kunst. Kurz: Sie fordert uns auf die Erfurcht vor der Kunst abzulegen.
Eigentlich aber ist das Bändchen eine Liebeserklärung, die so bezaubernd leichtfüßig und mit einigem Witz daherkommt. Nur wer liebt, kann auch hassen. Starke Gefühle, laute Lacher inklusive und manchmal fühlte ich mich wahrlich haarscharf ertappt…
Eine Lektüre, die wieder und wieder gelesen werden kann, soll, muss, darf.
INFOS bzw. zur Bestellung*:
- Hans Georg Esch, Pompeji – Der architektonische Blick, Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König, € 38.-.
- Alexander Kluge, Anselm Kiefer, Klugheit ist die Kunst, unter verschiedenen Umständen getreu zu bleiben, Bibliothek Suhrkamp, € 28.-
- Boaz Levin und C/O Berlin Foundation, Träum weiter – Berlin, die 90er, Spector Books, € 39.-
- Esther Mahlangu – To Paint is in My Heart von Thomas Girst, Azu Nwagbogu und Hans Ulrich Obrist, Thames & Hudson, € 19,99
- Swan Collective, LEXI.exe, Shift Books, € 23.-
- Marine Tanguy, The Visual Detox, Square Peg, € 14,99
- Nicole Zepter, Kunst hassen – eine enttäuschte Liebe, Tropen, € 10.-
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