Sommertage mit Kunst in Berlin

Es ist wieder Sommer in der Stadt. Die Klimakrise beschert neue Hitzerekorde. Die Schwüle Berlins lässt sich in angenehm gekühlten Museen bei guter Kunst aushalten. Für große Namen geht es in die Flughafen-Hangars, dazu gibt es Picassos Frauenbilder, cooles Clubfeeling, abstrakte Kunst, unendliche Spiegelräume und Kunst in Schlössern. Das sind unsere Highlights für den heißen Kunst-Juli.

written by Gastautorin Juliane Rohr 3. Juli 2021

Diversity United – Flughafen Tempelhof

Think big

Das ist derzeit das Motto im Flughafen Tempelhof: 90 Künstler+innen aus 34 Ländern – 1 Kontinent im Dialog. Damit wirbt Diversity UnitedEine Megaschau in den Hangars 2 und 3, wo sonst Kunstmessen stattfinden. Nun also eine Ausstellung mit zeitgenössischer Kunst aus Europa, die das künstlerische Gesicht Europas sein soll. Es geht um anspruchsvolle Themen wie Demokratie & Vision, Macht & Gleichheit, Grenzen und Begrenzung, aber auch Erkenntnisse & Perspektiven oder Landschaften & Gedankenwelten.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeyer und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron haben die Schirmherrschaft übernommen. Auch das russiche Staatsoberhaupt Wladimir Putin war ursprünglich dabei. Denn nach Berlin soll die Ausstellung in Paris und Moskau zu sehen sein. Das mit der Präsentation in Moskau wird aber wohl nichts, politische Verwirrungen schieben scheinbar einen Riegel vor. Dabei sind einige der berührendsten Positionen von russischen Künstler+innen. Aber vielleicht ist da das letzte Wort noch nicht gesprochen…

In den Hangars des Flughafen Tempelhofs ist viel Platz für raumgreifende Kunstinstallationen.

Bekanntes und Neues

Es gibt viel Raum zwischen Malerei, Fotografie, Installationen, Skulpturen und Videokunst. Große Namen wie Georg Baselitz, Monica Bonvicini, Gilbert & George oder Katharina Sieverding, Rosemarie Trockel, Wolfgang Tilmans und Erwin Wurm… ein nicht enden wollende Liste. Kurz alles, was in Europa erfolgreich und aufstrebend oder gefragt ist, versammelt sich hier. Alle nebeneinander in friedlicher Koexistenz.

Dabei ist nicht alles eitel Sonnenschein in Europa. Die Fotografien von Olga Chernysheva zeigen einen anderen Alltag, einen Blick auf Menschen in postsozialistischen und neoliberalen Russland. Die Kronleuchter, die die russische Künstlerin da so poetisch am Straßenrand fotografiert hat, sind pure Überlebenskunst. Fabrikarbeiter*innen hängen sie dort hin, um sie zu verkaufen, denn ihr Lohn ist das Produkt, das sie selbst zu Geld machen müssen. Der Deputatlohn war im 18. und 19. Jahrhundert durchaus üblich. Aber im Jahr 2021 immer noch?

Berührende Fotografien der russischen Künstlerin Olga Chernysheva spiegeln ein anderes Europa.

Interessant gemischt

Vieles in diesen Hallen will zum Nachdenken anregen. Aber überzeugt die gezeigte Kunst wirklich?  Ist das Ganze nicht doch nur eine Ansammlung großer Namen mit eingesprenkelten Neuentdeckungen? Gibt es nicht auch von großen Künstler+innen schlechte Kunstwerke? Anselm Kiefer, den ich wirklich sehr mag, ist mit einem eher schwachen, einem mediokren Puppentheater gleichem Werk, vertreten.

Wie auch immer! In jedem Fall eine außergewöhnliche Ausstellung, die da gewuppt wurde. Interessantes, Neues und alt Bekanntes interessant vermischt. Allein dieser symbolträchtige Ort in Berlin atmet Geschichte und ist immer faszinierend. Ob die betrachtete Kunst dann im Kopf bleibt oder nicht, eine politische Aussage hat oder einfach nur gefällt, sollte jede und jeder selbst entscheiden.

Ein Besuch, zur Meinungsbildung lohnt in jedem Fall.

Und, so viel sei verraten, ich war doch an einigen Stellen positiv angetan, habe zwei durchaus anregende Stunden bei Diversity United verbracht. Und ja, ich war nach dem Besuch nicht mehr ganz so kritisch wie davor. Kontroverse Diskussionen sind einfach immer spannend. Also: Los geht‘s!

Große Namen sind Programm: Rosemarie Trockel (li) trifft auf Sheila Hicks

Museum Berggruen – Picasso

Les Femmes d’Alger

Was für ein verheißungsvoller Titel: Piacsso & Les Femmes d‘ Alger. Zack, bin ich in einer anderen Welt. Ein Sommer-Must im Museum Berggruen. Pablo Picasso hat sich an dem Gemälde Femmes d’Alger dans leur appartement, abgearbeitet. Eugène Delacroix hatte es 1834 geschaffen. Picasso machte daraus im Winter 1954/55 eine Serie von 15 Gemälden mit den Titeln A bis O.

Neun Versionen sind jetzt in dem Berliner Stühlerbau zu sehen. Der Sammler Heinz Berggruen selbst hatte die Version L gekauft und heute ist das Museum, die einzige öffentliche Sammlung, die ein Bild aus dieser einzigartigen Werkreihe besitzt. Pablo Picasso untersucht den orientalischen Körper und stellt unsere Sehgewohnheiten geschickt auf den Kopf. Während Delacroix seine Haremszene weich und rund darstellt, sehe ich bei Picasso die gemalte Frau von mehren Seiten gleichzeitig. Ihre Gliedmaßen sind seltsam verdreht, die Köpfe klein, alles löst sich in abstrakten Mustern auf. Mal knallig bunt, mal in zurückhaltenden Grautönen.

Über den Teppich geht es zu den Femme d’Alger von Pablo Picassot mit Zeitgenössischem

Aktuelle Positionen on top

Zusätzlich zu diesen aufregenden Gemälden werden kleine Zeichnungen und Skizzen gezeigt. Und damit immer noch nicht genug: Dem Ganzen werden spannende neue Positionen von algerischen Künstler+innen wie Zoulikha Bouabdellah, Halida Boughriet und Djamel Tatah beiseite gestellt. Vielleicht auch damit die ganze Schau nicht in den Ruch des alten, weißen Mannes gerät…?!

Fakt ist: Das ist eine phänomenale Ausstellung, die man (und frau) auf keinen Fall verpassen sollte! Ach, das Delacroix-Gemälde, das sonst im Louvre gezeigt wird, ist hier natürlich auch zu Gast. Und: zuletzt wurde ein Femmes d’Alger Bild aus der berühmten Serie, in New York bei Christie‘s für 179 Millionen Dollar versteigert.

Die gesamte Serie kauften Victor und Sally Ganz aus New York. Hier ein im Berggruen gezeigtes Foto, aus ihrem Salon, wo einige der Picasso Werke zu sehen sind.

Lust auf mehr Museum Berggruen? In unserer Reihe Kunst kocht hat uns dieses wunderbare Museum schon zu kulinarischen Gedanken verführt.

Palais Populaire – Marc Brandenburg

WOW!

Einfach nur Wow. Die Überblicksschau des Berliner Künstlers Marc Brandenburg im Palais Populaire ist toll, toll, toll. Er bezeichnet sich selbst als „menschliche Kopiermaschine“ und dreht dabei das Positive ins Negative. Soll heißen, ich blicke auf das Bild, als ob es das Negativ einer Fotografie ist. Die Schatten erscheinen hell und alles, was hell ist, malt er dunkel. Hirnsturm II  ist für mich im Berliner Sommer ein Muss. Hier stellt sich zudem Clubfeeling ein. Klar, ganz ohne laute wummernde Bässe, aber die stürmen trotzdem durch meinen Kopf. Ich höre auch das Grundrauschen der Stadt. Ein wilder Rave.

Der in Schwarzlicht getauchte erste Ausstellungsraum voller Zeichnungen lässt mich innerlich durch diese Bilderflut wirbeln. Marc Brandenburg erzeugt mit seinen Bleistiftzeichnungen phantastische, sehr präzise Bilder in unseren Gehirnen. Mir begegnen Michael Jackson, der Künstler selbst und auch harte Lederjungs, die sich so im Berghain treffen. Schwere Silberketten, Villen-Interieurs oder Karusellfahrten wie bei Alice im Wunderland. Herrlich.

In Schwarzlicht getauchte Räume machen die Kunst von Marc Brandenburg besonders

Berührende Videoarbeiten

Marc Brandenburg wurde 1965 in Berlin-West als Sohn eines GIs und einer Deutschen geboren. Wächst zunächst in Texas auf, kommt im Alter von 12 Jahren zurück nach Berlin. Er ist in der Punkszene unterwegs,  wird Türsteher und wohnt mit Christiane F. in einer WG. Brandenburg arbeitet als Modedesigner und erregt mit seinen Tarnpullovern für Ausländer 1992 ertsmals als Künstler Aufsehen.

Diese Camouflage-Strickobjekte hat er vor einigen Jahren wieder aufgegriffen. Dreht nun mit ihnen Videos, die im zweiten Raum gezeigt werden, drei Varianten parallel. Ich beobachte u.a. wie drei Freunde duch Berlin schlendern in ihren „Pullovern“, die zeitgleich ihre Identität verschleiern. Und genau diese Strickobjekte

lösen beim Betrachter Hirnstürme aus,

sagt die Kuratorin Sara Bernshausen. Klingt vertrackt, ist aber sehr berührend, denn es geht um rassistische Denkmuster, ethnische Stereotypen. Wie gut, dass ich diesen Raum wieder durch den ersten verlassen muss. So bewahre ich mit einem Gefühl von Leichtigkeit diese Schau, die nachhallt, im Gedächtnis.

Palais Populaire – Ways of Seeing Abstraction

Abstrakte Kunst

100 Bilder, allesamt abstrakt von 1960 bis heute aus der Sammlung der Deutschen Bank. Ways of Seeing Abstraction ist  ein schöner Mix, der die Viefalt und aktuelle Entwicklung der abstrakten Kunst widerspiegelt. Diese Kunstform war zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts die wesentliche Ausdrucksform für Ideen der Moderne. Die reduzierte Formensprache hinterfragt durchaus die eigene Kultur und öffnet neue Perspektiven.

Klassiker wie 1000 kleine Farbquadrate

von Gerhard Richter finden sich ebenso wie historische Werke zum Beispiel die Ölpastelle von Wilhelm Müller und geometrische Muster von Günter Fruhtrunk, dem Aldi-Tüten-Muster Erfinder. Es gibt Neues von Kapwani Kiwanga, die sich mit Farbe als Mittel mit psychologischer Wirkung z.b. in Krankenhäusern auseinandersetzt.

Ganz neu und extra für das Palais Populaire konzipiert ist die Arbeit von Claudia Wieser in der Rotunde des Treppenhauses. Die Künstlerin zeigt mit Spiegeln, Kacheln und Wandtapete, wie die abtrakte Form in eine dritte Dimension gehoben werden kann. Neugierig? Abstrakte Kunst lässt sich immer neu entdecken.

Gropius Bau – Yayoi Kusama

Nicht verpassen

Wer es noch nicht geschafft hat, einen der begehrten Zeit-Slots im Gropius Bau für die Yayoi Kusama Retrospektive zu ergattern, der hat noch bis zum 15. August Zeit. Zu unserer Besprechung auf dem Blog geht es hier. Die Ausstellung der Queen of Polkadots und Infinity-Roooms ist wirklich sehens- und erlebenswert!

A Bouquet of Love I Saw in the Universe heißt die pinke Installation im Lichthof, die Yayoi Kusama für den Gropius Bau kreiert hat.

Lust auf eine Landpartie?

Zauberhafte Schlösser-Tour

Dann empfehle ich sehr den Picknick-Korb üppig zu befüllen und auf Schlösser-Tour in Sachen Kunst zu gehen. Im Schloß Lieberose hat Kuratorin Heike Fuhlbrügge die 26. Ausgabe der Rohkunstbau zusammengestellt. Diesmal unter dem Titel Ich bin Natur – von der Verletzlichkeit. Überleben in der Risokogesellschaft. Das mag sperrig klingen in diesen luftig, leichten Sommertagen, ist aber in Zeiten der Pandemie auf den Punkt gebracht. Er geht um die tiefen existenziellen Unsicherheiten, Wünsche und Hoffnungen, die durch Covid-19 und andere Katastrophen wie Fukushima in Menschen ausgelöst werden.

Die Auswahl der Künstler+innen ist auch in diesem Jahr grossartig. Von bekannten Berlinern wie Michael Müller und Claudia Chaseling zur Israelin Noa Gur und internationalen Größen wie Kapwani Kiwanga, Laure Prouvost oder Gilbert & George. Die neue Kunst im alten Schloss ist einfach bezaubernd.

Im vergangene Jahr standen dort abstrakte Stahlskulpturen jetzt bezaubern mich Blüten von Luzia Simons und Keramikblätter von Mario Brandao.

Noch zwei Tipps

Fotografie rund um das Thema Trautes Heim ist in diesem Sommer im Schloß Kummerow zu sehen. Der nahe See ist ideal für eine Abkühlung. Ein perfekter Tagesausflug ins mecklenburgische Land.

Nur einen Katzensprung vom trubeligen Berlin liegt der Skulpturenpark des Schlossgutes Schwante. Hier haben sich zu den bereits bekannten Arbeiten in dem herrlichen, zum Teil verwunschenen Park einige neue Installationen hinzu gesellt.

Alle Informationen sind hier zu finden. Viel Spaß und Entspannung bei guter Kunst und herrlicher Landschaft.

Geheimtipp unter Fotokunst-Fans: Schloss Kummerow

INFO:

Aktuell ist für einen Museumsbesuch in Berlin keine Testpflicht notwenidig, bitte aber unbedingt vor einem Besuch auf den jeweiligen Webseiten checken.

Diversity United

bis zum 19. September 2021

  • täglich außer Dienstag
  • Montag 11 bis 18 Uhr
  • Donnerstag – Sonntag 11 – 20 Uhr

Flughafen Tempelhof Hangar 2 + 3, Columbiadamm 10, 12101 Berlin

Museum Berggruen

Picasso & Les Femmes d’Alger

bis zum 29. August 2021

  • täglich außer Montag
  • 10 – 18 Uhr geöffnet

Schloßstraße 1, 14059 Berlin

Palais Populaire

Marc Brandenburg – Hirnsturm II

bis zum 23. August 2021 und

Ways of Seeing Abstraction

bis zum 7. Februar 2022

  • täglich außer Dienstag
  • 11 – 18 Uhr Donnerstag 11 – 21 Uhr

Unter den Linden 5, 10117 Berlin

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