Anregende Ausstellungs-Highlights für den frostigen Februar in Berlin

Ab in die Museen der Stadt! Zur Kunst, die gute Laune macht, in diesem Winter, der sich nicht entscheiden kann, ob er einer sein will. Und dazu die Erkenntnis: Sich mit Kunst zu beschäftigen, verlängert das Leben. So eine britische Studie. Wenn das kein Grund ist in Berlin Kunst zu erleben? Unsere Highlights jetzt:

written by Gastautorin Juliane Rohr 23. Januar 2020

 

  1. Johanna Diehl – Haus am Waldsee
  2. Caline Aoun – Palais Populaire
  3. Amoako Boafo – Miettinen Collection/Salon Dahlmann
  4. Anthony Caro – Gemäldegalerie
  5. Und die Studie „Kunst verlängert das Leben“

1. Haus am Waldsee – Johanna Diehl

Familiengeschichte mal anders

Das Eigentliche der Geschichte steckt in den Falten der Erinnerung. Was für ein wunderbarer Satz, frei nach Walter Benjamin von Johanna Diehl ins Haus am Waldsee transportiert. Mit ihren Fotoarbeiten lässt die Künstlerin in das Übersehene, Vergessene und Unsichtbare blicken.

Das Erdgeschoß der Villa wird zu einer kraftvollen Erzählung. Dank der Installation in den Räumen folgt der Besucher einer Familiengeschichte, die sich auf eigene Erfahrungen und Verletzungen übertragen lässt. Die geerbten Tagebücher ihrer Großmutter nimmt die 42jährige zum Anlass über zehn Jahre hinweg einzelne Tage herauszupicken und fotografisch einzufangen.

Tagebücher der Großmutter

 Inszenierte Sorglosigkeit

Dabei mischt Johanna Diehl Neues mit Vorhandenem, wie Fotografien von exotischen Reisen, spürt gekonnt dem Mangel an Gefühlen in Familien der Nachkriegsjahre nach. Erlebtes seelisches Leid konnte nach dem zweiten Weltkrieg oft nicht in Worte gefasst werden, was wiederum unbeteiligte Familienmitglieder teilweise schwer belastet hat. Harmonie und Sorglosigkeit wurden in Perfektion inszeniert, um den Schein der heilen Welt nach Aussen zu bewahren.

Das Unausgesprochene, war für alle hörbar, blieb jedoch verschüttet. Es geht hier auch um Diehls Vater, seine Kindheit in den 50er Jahren in Kassel. An der Verlogenheit des bildungsbürgerlichen Atmosphäre verzweifelte er, nahm sich mit 39 Jahren das Leben – die Leerstelle wird in der Schau sichtbar. Eine beeindruckende, dabei zärtliche und nachdenklich stimmende Form der Geschichtenerzählung.

Eine neue Videoarbeit ist Teil der Installation im Erdgeschoß

Poetische wirkende Utopien

Im zweiten Teil, dem oberen Stockwerk des Hauses begegnen mir andere Werkgruppen der in Berlin arbeitenden Künstlerin. Hier setzt sie sich mit Architektur und den Geschichten, von denen Gebäude erzählen, auseinander. Dank dieser zauberhaften, zum Teil aus der Zeit gefallen und futuristisch wirkenden Fotografien reise ich zu visionären Kräften architektonischer Utopien in Europa.

Für die Serie Borgo, Romanitá und Alleanza besuchte Johanna Diehl verschiedene Mustersiedlungen in Italien, die Diktator Benito Mussolini 1924 anlegen ließ. Das Vorzeigeprojekt wurde jedoch nie mit Leben gefüllt und so sind Häuser und Straßen verwaist; führen ins Nichts. Auf den Farbfotos wird die gescheiterte Utopie erneut ins Bewusstsein gerückt, sichtbar gemacht. Lohnenswert, poetisch und schön.

Europäische Architektur Utopien

2. Palais Populaire – Caline Aoun

Was sehen wir?

Digitalisierung auf sinnliche Art und Weise zeigen, Datenflüsse sichtbar machen, das kann Caline Aoun. Sie schafft es, höchst komplexe Technik in einer erstaunlichen Vielfalt der Materialien zu visualisieren. Mit dem Titel der Ausstellung  Seeing is believing  stellt sich gleich die Frage: Was sehen wir eigentlich wirklich?

Die libanesische Künstlerin gibt einem Drucker den Befehl ein schwarzes Blatt zu drucken. Doch dann lässt sie ihn so lange laufen, bis der Drucker die Farbe nicht mehr aufsplitten kann und schließlich nur noch weißes Papier ausspuckt. Die Daten zirkulieren, aber die Patrone ist leer, eigentlich ist der Drucker erschöpft: Tilt! Das Ergebnis klebt Aoun an die Wand des Palais Populaire – in den Farben Weiß, Schwarz, Magenta, blau schillernd und einem Schuß gelb dazwischen.

Und plötzlich an einem völlig anderen Ort

Farbe ist die Basis aller Information für den Drucker. Cyan, Magenta, Gelb und Schwarz hat Caline Aoun im Palais Populaire in vier Brunnen gefüllt und mit einem Schlauchsystem miteinander verbunden. Während ich das blubbernde Farbenspiel betrachte, schickt jeder Brunnen dem anderen seine Pigmente – dadurch wechseln diese nach und nach ihre Farbe. Der Brunnen als Moment der Regeneration, der sich durch einen eigenen Kreislauf erhält.

Herrlich auch ein Video-livestream einer Stelle am Meer von Beirut. Es ist der Ort, an dem Kabel für das world wide web ins Meer gehen und in Richtung Europa laufen. Ich stehe hier in Berlin, bin aber mit Augen und Gedanken plötzlich in Beirut  – „Kollaps von Ort und Zeit“, nennt Aoun das. Die Libanesin ist 2018 zur Künstlerin des Jahres der Deutschen Bank gewählt worden. Die Auszeichnung ist mit dem Ankauf einer ihrer Arbeiten und mit dieser Einzelausstellung verbunden. Minimalistisch, kontemplativ mit einigen Bedeutungsschichten – es lohnt in dieser Ausstellung innezuhalten und im Moment zu sein.

Caline Aoun erklärt ihre Konzeptkunst

3. Amoako Boafo – Salon Dahlmann

Faszinierende Porträts

Der Salon Dahlmann und sein Besitzer, Sammler Timo Miettinen sind immer für einen Wow-Effekt gut. Im Showroom des Salons sind wunderbare Porträts zu Gast – von Amoako Boafo, einem Künstler, der gerade noch in Miami Beach auf der Art Basel gehypt wurde. Miettinen ist Boafo Sammler der ersten Stunde und daher stehen sechs Positionen aus seiner Sammlung neuesten Arbeiten des Künstlers gegenüber. Wie spannend der Entwicklung eines jungen Künstlers nachzuspüren, zu sehen, wie sich sein Malstil verändert.

Seit drei Jahren malt der aus Ghana stammende Boafo die Haut seiner Figuren mit den Fingern, sie schimmert und leuchtet in allen Brauntönen, sogar mal ein bisschen rot oder blau. Seine Bilder haben dadurch eine unverwechselbare Handschrift. Black Diaspora nennt Boafo seine Serie an Menschen, die er seit zwei Jahren malt. Es sind Freunde, schwarze Künstlerikonen wie Jean-Michel Basquiat, die er malt.

Der Maler zeigt Menschen, die sich in Ihrer Haut wohl fühlen, ganz bei sich sind. Gleichzeitig strahlen sie Kraft aus, ohne aggressiv zu wirken, sind elegant und voller Anmut, dabei auch ein bisschen verletzlich. Diese Spannung in den Porträts von Boafo ist es, die den Betrachter in den Bann zieht und zu einem Dialog mit dem Bild anregt.

Amoako Boafo fasziniert mit seinen Porträts im Salon Dahlmann

Von Egon Schiele inspiriert

Amoako Boafo kam 2013 aus Ghana nach Wien, wo er gerade an der Akademie als Meisterschüler bei Kirsi Mikkola studiert. Auf der Art Basel Miami Beach im Dezember ist er als die Neuentdeckung gefeiert worden. Im nagelneuen Rubell Museum (der Bericht über das Museum folgt demnächst hier auf dem Blog) hat der 35jährige seine Porträts gezeigt, die während eines einmonatigen artist-in-residence Programms für das Sammlerpaar Mera und Don Rubell entstanden sind. Mit seinen selbstbewußten Figuren, die von Egon Schiele inspiriert sind, feiert er das Schwarzsein und ihre Identität. Kürzlich noch in Miami – und schon in Berlin zu sehen. Nicht verpassen!

Elegante Figuren, die das Schwarzsein feiern

4. Anthony Caro – Gemäldegalerie

Kunsthistorischer Zeitsprung

Wer Kunst wirklich verstehen will, muss sich immer wieder mit Klassikern auseinandersetzen. Versuchen die Zeit der Renaissance, das holländische Zeitalter, Barock, Romantik und so weiter zu ergründen. Gesellschaftliche, religöse Strömungen, politische und wirtschaftliche Bedingungen in den Kontext setzen. Einen inspirierenden Ausflug in Sachen Kunstgeschichte kann man derzeit in der Gemäldegalerie am Potsdamer Platz unternehmen. In unmittelbarer Nähe von Meisterwerken von Fra Angelico, Raffael, Hieronymus Bosch oder Lucas Cranach dem Älteren steht jetzt bis Mitte Juli die Skulptur Das jüngste Gericht von Anthony Caro.

42 Tonnen Holz, Stahl, Messing und Steinzeug wurden für sieben Monate in die Wandelhalle gewuchtet. Der britische Bildhauer (1924-2013) verwendete in seinen monumentalen Skulpturen gerne gefundene Materialien von industriellem Schrott. 1999 wurde Das jüngste Gericht auf der Biennale in Venedig gezeigt. Mitfinanziert hatte das aufwendige Projekt Kunstsammler Reinhold Würth, der das Werk von seiner Entstehung an, bereits in Caros Atelier begleitet hat. Soviel zu den harten Fakten.

Hoffnungsschimmer statt Erlösung

Die Installation in der abgedunkelten Halle betrete ich durch ein massives Holztor mit einer Glocke. Hat etwas von einer Kirche, die dahinter liegenden mit Spotlights angestrahlten 25 Arrangements bestärken das sakrale Gefühl.  Das jüngste Gericht ist eine Reaktion des Künstlers auf die Greueltaten in Europa. Ausgehend von den Balkankriegen in den 1990er Jahren, die für ihn, als jüdischen Künstler, alarmierend waren und an den Holocaust erinnerten. Schatten der Nacht, Fleisch, Zivilkrieg, Todes-Tür sind ein paar Namen der Bildgeschichten –  einem Pilger gleich soll der Besucher die Skulpturen-Gruppen abwandern. Erlösung ist nicht wirklich in Sicht – wobei das Himmelstor am Ende der Installation einen hoffnungsvollen Spalt breit geöffnet ist.

Inspirationsquellen waren für Caro Wandgemälde von Giotto in Padua oder Assisi, aber auch Bilder von Cranach, Bosch oder Angelico. Hier schließt sich der Kreis, da ich mir Werke dieser Künstler sehr eindrucksvoll in der Gemäldegalerie anschauen kann. Sehenswert, Zeit mitbringen – und wer kann, gerne mehrmals reingehen und immer wieder betrachten.

Ausschnitt aus Der Jungsbrunnen (1546 entstanden) von Lucas Cranach dem Älteren

 

5. Und noch ein Wort zu der Studie

Lebensverlängernde Kunst

Wer in Ausstellungen, Konzerte und ins Theater geht, tut etwas für seine Gesundheit – lebt länger. Echt jetzt? Ja! Daisy Fancourt und Andrew Steptoe vom University College London haben sich diesem Thema wissenschaftlich genähert. Dafür werteten sie die Daten einer britischen Langzeitstudie mit mehr als 6.000 Teilnehmern über 50 Jahren aus. Laut der Studie senkt regelmäßiger Musik- und Kunstgenuss die Sterblichkeit bei älteren Menschen um bis zu 31 Prozent. Im British Medical Journal sagen die beiden, dass dieser positive Effekt mit „Bewegung, geistiger Anregung und sozialen Kontakten erklärbar ist, die mit solchen Aktivitäten verbunden sind.“ Dass Kunstgenuss Inspiration und Anregung für das Gehirn bietet, ist doch mal d i e Motivation schlechthin für die neue Dekade und so wunderbar einfach umsetzbar! Mein Vorsatz, 2020 keine Vorsätze zu haben, ist damit ad acta gelegt.

Infos

Haus am Waldsee

Johanna Diehl. In den Falten das Eigentliche

  • bis zum 1. März 2020

Argentinische Allee 30, 14163 Berlin

Palais Populaire

Caline Aoun. Seeing is Believing

  • bis 2. März 2020

Unter den Linden 5, 10117 Berlin

Miettinen Collection/Salon Dahlmann

Amoako Boafo. The Gaze, an Exchange

  • bis 29. Februar
  • Immer samstags von 12 bis 18 Uhr geöffnet im Temporary Showroom, Erdgeschoß

Marburger Straße 3, 10789 Berlin

Gemäldegalerie

Anthony Caro. The Last Judgement Sculpture 

  • bis 20. Juli 2020

Matthäikirchplatz, 10785 Berlin

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