1. Yoyi! Care, Repair, Heal – Gropius Bau
Neues und Vertrautes
Das große Thema in der Kunstwelt ist derzeit die Heilung. Mal wieder möchte man meinen. Na und? Die Zeiten sind nun mal unangenehm. Wir schlittern von einer Krise ungebremst in die nächste. Gewöhnen uns langsam an Ausnahmesituationen.
Mit dieser Ausstellung zeigen 25 internationale Künstler: innen was ihnen zum Thema Fürsorge, Reparatur und Heilung einfällt. Dabei geht es um die „Politisierung von Gesundheit, indigenen Wissenssystemen, Dekolonialisation und Formen von (Wahl-)Verwandtschaften.“ Klingt sperrig? Ist es aber nicht! Wie so oft kann ich im Gropius Bau Neues entdecken und Bekanntes vertiefen.
Und ich lerne, dass Yoyi der titelgebende Name der Ausstellung für einen zeremoniellen Gesang und Tanz steht. Yoyi ist für die Kultur der Kiwi in Nordaustralien von zentraler Bedeutung. Zudem gibt es einen Resonanzraum zu Yoyi! Care, Repair, Heal, der dem Thema mentale Gesundheit in Berlin gewidmet ist. Hier werden unterschiedliche Stimmen aus Nachbarschaft, Wissenschaft und Gesellschaft in den Dialog gesetzt. Spannend.
2. Louise Bourgeois – Gropius Bau
Schnell noch hin!
Wer noch nicht da war – nichts wie hin. Die grandiose Ausstellung The Woven Child läuft nur noch bis zum 23. Oktober im Gropius Bau. Klar, eine ihrer berühmten Cells und eine Maman, also eine Spinne, sind zu sehen. Den Schwerpunkt dieser Schau bildet jedoch das textile Werk der Künstlerikone. Erst im Alter von über achtzig Jahren hat Louise Bourgeois (1911 – 20210) diese Arbeiten geschaffen. Dabei hat ihr Vater sein Geld mit der Herstellung von Tapisserien verdient.
Mit der Materialauswahl arbeitet sie an ihrem eigenen Narrativ. Mit der Nadel setzt sie ihre Biografie und ihre großen Themen Körper, Weiblichkeit, Erinnerung, Trauma und Reparatur in den Dialog. Die Collagen, Bücher, Drucke und Zeichnungen aus ihren Spätwerk sind zum ersten Mal hierzulande zu sehen und sind verstörend schön.
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3. LuYang – Palais Populaire
Technobeats inklusive
Phantasievoll gekleidete Avatare wirbeln mir gleich im ersten Film Mind Matrix entgegen. Sie tanzen durch Kathedralen, Tiefgaragen und das Raumschiff Enterprise. Eingängige Technobeats machen mir ad hoc gute Laune, ich wippe innerlich mit. Willkommen in dieser lustig bunten Gamingwelt von LuYang.
Es geht um eine hypermoderne, urbane Welt in der der Mensch die Möglichkeit hat zu lernen, sein Selbst und sein zerstörerisches Verhalten zu überwinden.
Philosophie trifft Wissenschaft wird Kunst
Die/der chinesische Künstler*in ist Deutsche Bank „artist of the year“ und macht aus dem Palais Populaire mit Doku Experience Center ein ziemlich cooles Forschungslabor. Die Arbeiten von Lu Yang sind ein vergnügtes Crossover aus Neurowissenschaften, Buddhismus, Medizintechnologie, Science-Ficton und der japanischen Mangawelt.
Scheinbar federleicht werden hier traditionelle Philosophie mit modernster Wissenschaft verknüpft. Das alles verbindende Element ist Tanz, die genderneutrale Avatare mit Namen wie Human, Heaven oder Hell aufführen.
Hat was von Metaverse.
Ob das so gewollt ist? Vielleicht ist das auch nur eine Assoziation, weil das Metaverse noch so ein unbekanntes Feld ist und dennoch irgendwie im Kopf verankert ist. Ausserdem scheint das hier gezeigte eine sympathische Variation davon zu sein.
4. Leila Hekmat – Haus am Waldsee
Jeder Raum ein Kunstwerk
Anna Gritz ist seit Mai Direktorin im Haus am Waldsee und ihre erste Schau ist erfrischend anders. Leila Hekmat hat für sie und uns das Museum in das Hospital Hekmat umgewandelt. Das ganze Haus ist eine theatrale Installation. Genauer wird es zum religiöses Sanatorium für Frauen. Female Remedy ist ein Ort für eine Krankheit, die keiner Heilung bedarf, erklärt mir der Ausstellungstext. Hach! Die
unheilbare Erfahrung des Weiblichen“
wird an diesem imaginären Ort so grandios gefeiert. Kuriose, spöttische Extravaganzen überall. Sexy und phantasievoll gekleidete Krankensisters erwarten (mich) und die Patientinnen im Untersuchungsraum, dem Schlafsaal, der Kapelle und sogar im Klo.
Grotesk, surreal & liebevoll
Hekmat entwickelt in der Tradition der Commedia dell’Arte ihre grotesken Performances. Ihre Inspirationsquellen sind exzentrische Frauen wie die New Yorker Autorin Fran Lebowitz, jüdische stand-up Comedians oder Schauspielerin Goldie Hawn. Aber auch Künstler Andy Warhol und Giorgio de Chirico. Hekmat selbst ist in der konservativ, jüdisch-iranischen Community in Los Angelos aufgewachsen. Nach einigen Jahren New York ist sie vor zehn Jahren nach Berlin gezogen.
Doch zurück ins Haus am Waldsee. In den vom Band kommenden Liedtexten stemmt sie sich gegen die engstirnige Auffassung von Gender. All das steckt voller Satire und Selbstironie. Das surreale Erfahren inklusive. Ein wilder, herrlicher Rausch, den man sich nicht entgehen lassen sollte.
5. Mona Hatoum in drei Museen
Exil und Migration sind die Themen der palästinensischen Künstlerin. Momentan ist sie in drei Museen quer durch Berlin zu Gast. Mit ganz unterschiedlichen Werken, auch weil die drei Orte nicht unterschiedlicher sein könnten.
In ihren Installationen geht es um Körper, Gewalt, Tabus. Ihre Installation Remains of the Day in der Mailänder Fondazione Prada hat mich vor Jahren tief berührt, ist im Kopf geblieben. Eben diese Stühle und Tische oder das ,was davon übrig blieb, ist im Georg Kolbe Museum zu sehen. Hier bekomme ich eine Überblick über Hatoums Werk ab den 1980er Jahren.
Bedrückend die Performance-Videos aus ihren Anfängen an öffentlichen Plätzen, wo sie mit dem Publikum interagiert.
Gefährlich schön die Glasplatten, die auf Murmeln platziert sind und die sie extra für das Kolbe Museum entworfen hat. Was passiert wohl, wenn ich sie betrete? Erwartung versus Schönheit versus Schrecken…
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Installation „Remains of the Day“
Verblüffend simpel
Der Neue Berliner Kunstverein, kurz n.b.k., zeigt vor allem Werke, die sich um die Erfahrung von Entwurzelung drehen. In diesem White-Cube-Raum zeigt sie ihre Highlights. Das Elektrische Sirren, das von simplen Küchenutensilien ausgeht, erfüllt den ganzen Raum. Plötzlich erscheinen die alltäglichen Dinge so gefährlich. Diese Installationen sind verblüffend einfach und verblüffend aufgeladen.
Für das Kesselhaus im Kindl – Zentrum für zeitgenössische Kunst hat Mona Hatoum die raumgreifende, kinetische Skulptur „all of a quiver“ geschaffen. Auch hier geht es um Fragilität und die Fragen:
Wie zerbrechlich ist unsere Existenz? Wie prekär und wacklig ist unser Leben in all diesen Umwälzungen der Gegenwart? Wie weit liegen Alltag und Katastrophe auseinander?
6. Joan Jonas – Haus der Kunst
D I E Performance-Ikone
Selten schreibe ich über Ausstellungen, die ich noch nicht besucht habe. Hier mache ich eine Ausnahme. Mein Tipp: Unbedingt ins Haus der Kunst zu Joan Jonas gehen. Die inzwischen 86jährige Amerikanerin ist die Grande Dame der Performance und Videokunst. Um genauer zu sein, überführt sie ihre Performances in Installationen und Videoarbeiten.
Die Kunstzeitschriften und Feuilletons überschlagen sich. Diese umfangreiche Einzelausstellung war eigentlich schon für 2018 geplant. Doch dann war unter anderem das Geld knapp. Jetzt aber! Ja, ich werde hingehen und freue mich so sehr auf dieses Fest für alle Sinne. Joan Jonas ich komme…
und das mit ganz viel Zeit!
Denn eines habe ich in den vergangenen fünf Wochen – etwas schmerzhaft – gelernt: zu entschleunigen. Weniger ist mehr habe ich als Devise versucht zu verinnerlichen, mich in Geduld geübt. Warum? Ein inzwischen operierter Meniskusriss hat mich gebremst – im wahrsten Sinne des Wortes. Die Gehhilfen darf ich in einer Woche endlich weglegen (hoffentlich). Dann geht es in kleinen Trainingseinheiten weiter und wohldosiert in die Kunst.
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Joan Jonas bezaubert mit ihrer sehr besonderen Welt (Foto: Caro Angermann)
7. Dayanita Singh – Villa Stuck
Wunderbare Bilderwelt
Endlich! Wer es nicht zu dieser phantastischen Schau im Berliner Gropius Bau geschafft hat, der kann jetzt in die Villa Stuck zu Dayanita Singh in München gehen. Ich war begeistert von dieser indischen Fotografin, die mit ihrer Hasselblad das Leben um sie herum so eindrücklich und einmalig einfängt. Dancing with my Camera ist ein Geschenk für das Publikum.
Die Ausnahmekünslerin befreit die Bücher aus dem Bücherregal und präsentiert ihre Fotos in Paravents und beweglichen Tableaus. Aussergewöhnlich und so wunderbar, dass ich auch in München die Gelegenheit wahrnehmen werde, Dayanita Singh und ihr Werk zu besuchen.
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Dayanita Singh bei der Ausstellungseröffnung im Gropius Bau.
Infos
BERLIN
Yoyi! Care, Repair, Heal
- bis 15. Januar 2023
Louise Bourgois – The Woven Child
- Bis 23. Oktober
- Gropius Bau, Niederkirchnerstraße 7 , 10963 Berlin
- Öffnungszeiten Gropius Bau
LuYang – DOKU Experience Center
- bis zum 13. 2. 2023
- Palais Populaire, Unter den Linden 5, 10117 Berlin
- Öffnungzeiten
Leila Hekmat – Female Remedy
- bis zum 8. Januar 2023
- Haus am Waldsee, Argentinische Allee 30, 14163 Berlin
- Öffnungszeiten
Mona Hatoum
Ein Kooperationsprojekt des Neuen Berliner Kunstvereins, des Kindl – Zentrum für zeitgenössische Kunst und des Georg Kolbe Museum
Alle Ausstellungen haben unterschiedliche Laufzeiten, daher ist alles schon oben verlinkt.
MÜNCHEN
Joan Jonas
- Bis zum 26. Februar 2023
- Haus der Kunst, Prinzregentenstraße 1, 80538 München
- Öffnungszeiten
Dayanita Singh – Dancing with my Camera
- Bis zum 19. März 2023
- Villa Stuck, Prinzregentenstraße60, 81675 München
- Öffnungszeiten
Zur Ausstellungsbesprechung von Dayanita Singh im Gropius Bau
VENEDIG
Und hier noch einmal der link zu unseren Venedig-Tipps. Die 59. Biennale läuft noch bis zum 27. November. In Celia Alemanis The Milk of Dreams und in vielen der Länderpavillons werden starke Künstlerinnen und ihre Positionen vielfältig gefeiert. Gerne nachlesen in unseren TOP 10. Und wer noch dorthin reisen möchte: Jetzt, im Herbst, ist die Lagunenstadt besonders schön.
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Nachts auf dem Marktplatz – für Natali und mich ein Muss…