Mit Distanz in die Galerien
Es ist der Pflichttermin jedes Jahr Ende April. Dann versammelt sich die internationale Kunst- und Sammlerszene in Berlin, denn die dort ansässigen Galerien laden zum Gallery-Weekend. Vier lange Tage von einer Galerie zur nächsten hoppen, Atelier- und Dinnereinladungen obendrein, gute Gespräche führen und dabei immer noch großartige Entdeckungen machen. Hach. Berlin, Du bist so wunderbar. Letztes Jahr wurde der Event, der Nachahmer in der ganzen Welt hat, pandemiebedingt in den September geschoben. Das war ok, aber irgendwie anders.
Nicht verpassen
Um so besser: In diesem zweiten Jahr mit Corona haben die Galeristen sich dann doch getraut! Frisch getestet, mit Anmeldung und unter Beachtung der Hygienevorschriften sind in Orten für die Kunst Neugierige willkommen. Und für die – gezwungenermaßen – Daheimgeblieben gab es jede Menge Zoomführungen, Instagram-TV, Talks und allerlei anderes auf allen social-media-Kanälen sowie der Webseite des Gallery Weekends. Die Ausstellungen sind meistens bis Mitte oder Ende Juni zu sehen.
Damit der Kunstbesuch nicht zu einem weiteren Stresstest in Zeiten von C. wird, haben wir uns entschieden erst nach dem doch trubeligen Wochenende unsere Bitte-nicht-verpassen-Liste zu veröffentlichen. Nach dem ersten Hype sind jetzt freie timeslots garantiert kein Problem. Anmeldung und ein frischer Corona-Test sind immer noch erforderlich, aber diese Hürde zu nehmen, lohnt sich unbedingt.
Übrigens ist unsere Tour bequem an einem Tag zu schaffen. Viel Spaß!
Kontemplative Momente
Cabrita
Galerie Kewenig Warehouse
Etwas abgelegen in Moabit liegt das Warehouse der Galerie Kewenig. Seit einem Jahr wird auch dieser Ort mit Kunst für das Publikum geöffnet. Ursprünglich ein historisches Elektrizitätswerk dient es Kewenig eigentlich als Lagerraum, aber eben auch als Showroom. Schon hinter dem Eingang versteckt sich eine faszinierende Installation von Christian Boltanski, die dort dauerhaft installiert ist. Der französische Künstler ist übrigens auch im Stammhaus von Kewenig in der Brüderstraße 10 mit der Ausstellung Danach, das ist quasi sein Herzschlag dazu gesellen sich weitere sehr beeindruckende Arbeiten.
Aber zurück ins Warehouse und zu Cabrita, der dort gezeigt wird. Der portugisische Künstler bespielt das komplette Erdgeschoß. Unter dem Namen Pedro Cabrita Reis ist er für seine Installationen mit Neon, Aluminium Türen und Fenstern bekannt.
Jetzt zeigt er, schlicht als Cabrita, seine Malerei, mit der er sich dem Genre der Landschaftsmalerei nähert. Er bleibt zwar dem Prinzip der minimalen Geste treu, arbeitet aber mit intensiven Farben, die auf der rauen Leinwand wunderbar leicht ineinander fließen. Mit wenigen Pinselstrichen transportiert er den Betrachter ans Meer. Wohltuend kontemplativ. Mit dem Titel I (still) love the smell of oil color in the morning malt Cabrita seine Bilder in meinem Kopf weiter.
Galerie Kewenig – Anmeldung erforderlich! Wilhelmshavener Str.7, 10551 Berlin
Schillernde Natur
Pae White
Galerie Neugerriemschneider
Eigentlich hätte diese Ausstellung schon vergangenes Jahr hier in der Galerie sein sollen, aber Covid-19 kam dazwischen. Nun zeigt die in Kalifornien lebende Künstlerin Pae White die neueste Version der geplanten Präsentation bei neugerriemschneider.
Dabei verbindet sie fünf Werkgruppen: Steinskulpturen aus Mexiko, wunderbar funkelnde handgefertigte Kacheln und Textilminiaturen, die in Rahmen gefaßt im Raum zu schweben scheinen. Dazu kommt eine Tapisserie aus Flandern die eine abstrakte Wolkenlandschaft zeigt. Ähnlich wie die Kacheln wirken großformatige, dicke Bilder, die aus japanischem Papierton bestehen und mit prismatischem Autolack beschichtet werden. Während bei den Kacheln aus vielen ein ganzes wird, reicht bei der Papierarbeit ein singuläres Stück.
Handarbeit verbindet sich bei Pae White mit Technik, natürliche und menschliche Formen werden miteinander verschmolzen. Die Steinskulpturen zollen übrigens denjenigen Tieren Tribut, die bei Waldbränden 2020 in Kalifonien starben. Geborgene Relikte werden flirrend transformiert, fast zum Leben erweckt. Nachhallend.
Unbedingt auch im vorderen Ausstellungsraum die traumhaften Stoffcollagen von Noa Eshkol anschauen
Galerie neugerriemschneider – Linienstraße 115, 10115 Berlin
Kinetische Wunderwerke
Rebecca Horn
Galerie Thomas Schulte
Zum 30jährigen Jubiläum der Galerie Thomas Schulte zeigt die Galerie eine der bedeutensten Künsterinnen Deutschlands. Rebecca Horn gilt als Künstlerin der leisen Töne, die mit ihren poetischen Kunstwerken unsere tiefsten Erinnerungen, Erfahrungen und Empfindungen triggert. In ihren oft raumgreifenden Installatioenen und bewegten Skulpturen geht es um Liebe, Begehren, Freiheit, Angst und Beklemmung.
Bee‘s Planetary Map stammt aus dem Jahr 1998. Die leeren Bienenkörbe sollen an das entwurzelte Leben von Geflüchteten erinnern. Bienensummen und honiggelbes Licht strömt durch den Raum. Alle zwei Minuten aber zerfetzt ein Stein, der auf einen Spiegel knallt, die Idylle. Unwillkürlich ducke ich mich, suche Schutz.
Auch der Turm der Namenlosen im Corner-Fenster der Galerie installiert ist Emigranten gewidmet. Neun Geigen klettern den Leiterturm empor, stimmen in wilde Polyphonie, der den Schmerz der Menschen ausdrücken soll. Die Instrumente sind das einzige, was auf der Flucht mitgenommen werden konnte. Schaurig surreal und so politisch wie aktuell. Auch wenn es so schien, dass die Welt in Corona stillstand…
Galerie Thomas Schulte – Charlottenstraße 24, 10117 Berlin
13 Künstlerinnen
Gruppenschau
Esther Schipper
L‘invitation au voyage… schon der Titel weckt mein Fernweh. Wie gerne würde ich der Pandemie-Realität entfliehen. Aber bis ich in ein Flugzeug steige, wird es wohl noch etwas dauern. Also reise ich mit meiner Phantasie an fremde Orte. Traum und Phantasie sind auch das verbindende Thema dieser Gruppenausstellung bei Esther Schipper. Gleich mehrere Generationen von Künstlerinnen versammeln sich im oberen Stockwerk der Roatationshalle: Sarah Bruckner, Cui Jie, Cordula Ditz, Almut Heise, Hannah Höch, Leiko Ikemura, Tala Madani, Isa Melsheimer, Sojourner Truth Parsons, Paula Rego, Shahzia Sikander, Yi-Ting Tsai und Yeesookyung.
So viele Namen, nein, ich kannte sie auch nicht alle, aber die Einblicke in ihre unterschiedlichen Welten sind überraschend. Das hat museale Kraft und ist eine kleine, willkommene Alltagsflucht.
Galerie Esther Schipper – Potsdamerstraße 81e, 10785 Berlin
Noch zwei Kunst-Stopps
Adrien Ghenie bei Judin
Da in den Mercator Höfen alles so wunderbar nah aneinander liegt, möchte ich noch zwei kleine Abstecher empfehlen: In der Galerie Judin sind neue Bilder des Malers Adrien Ghenie zu sehen. N E U heißt, alle Werke sind aus dem Frühjahr diesen Jahres. Und: Alle in Berlin entstanden. Ich entdecke die Stadt in seinen Bildern, sehe einen orangenen Mülleimer der BSR und meine sogar eine Häuserzeile in Kreuzberg zu erkennen.
Und wieder sind da diese verdrehten Figuren, amorphe Gesichter wie bei Francis Bacon oder einfach nur Fragmente wie Giorgio de Chirico. Wunderbar. Aber auch ein schales Gefühl macht sich breit. Der lockdown 1.0 ist in weiter Ferne und plötzlich doch so nah: Man schaut Netflix und statt vor den Clubs wird vor Supermärkten Schlange gestanden. Ein Flashback auf vielen Ebenen.
Navid Nuur bei Plan B
Einmal um die Ecke unbedingt in die Galeria Plan B zu Navid Nuur. In When meanings get marbled mischen sich allerlei Materialien wie Spiegel mit verschiedenen Ebenen, Ton, Mineralien, Farbe, Marmor mit der Stimme des Künstlers. „Zeichnet man den Ton auf, kann man die
Vergangenheit hören, während man die Gegenwart betrachtet“,
sagt er dazu. Mineralien schmelzt er zu kryptischen Formen, dazu gesellen sich hübsche Tongefäße, eine riesige, gekippte Leinwand – alles ist im Fluß und doch irgendwie befremdlich. Ein feines immersives Kunst-Erlebnis.
Abstraktion trifft Fantasie
Albert Oehlen
Galerie Max Hetzler
Super aktuelles gibt es von Albert Oehlen, denn ähnlich wie bei Adrien Ghenie sind auch hier alle Bilder im Coronajahr 20/21 entstanden. Oehlen zählt zu den bedeutendsten, aber sicher auch zu den produktivsten und umsatzstärksten, lebenden Künstlern. Und wird schon als Gerhard Richter Nachfolger gehandelt. An gleich zwei Standorten der Galerie Max Hetzler (Goethestraße 2/3 und Bleibtreu 15/16, ) ist die Schau „unverständliche braune Bilder“ zu sehen. Es lohnt sich einzulassen und diese zumeist in erdigen Farben und mit Pink, Blau und Grün aufgemischten Bilder genauer zu betrachten.
Die großen, immer gleichen Formate scheinen wild und sind in jedem Fall abstrakt. Der deutsche Maler bringt Gegenstände auf dem kürzesten Weg auf die Leinwand. Das hat er mal in einem Interview gesagt. Wie auch immer. Oehlen schafft einen ganz eigenen Kosmos voller Zitate, da findet sich schon auch Salvador Dali wieder. Oder ist es doch ein Stück von Rene Magritte… vielleicht aber Picasso? Rätselhaft anregend. Jeder Betrachter findet in den Tiefen seiner Fantasie sicher seine ganz eigenen Referenzen. Bei den Collagen in der Bleibtreustraße ist die Oehlen-Trickkiste ein bisschen einfacher zu entschlüsseln…
Galerie Max Hetzler – Goethestraße 2/3 und Bleibtreu 15/16, 10623 Berlin
Zauberhaft besonders
Claire de Santa Coloma
Galerie Klaus Gerrit Friese
Sie ist eine Entdeckung und ihre Arbeiten sind magisch. Vor zwei Jahren hat die Galerie Klaus Gerrit Friese ihren Künstler Willi Baumeister mit jungen Positionen zeitgenössischen Positionen kombiniert. Claire de Santa Coloma ist dabei besonders im Gedächtnis geblieben. In der Ausstellung Inner kombiniert sie bekannte Formen zu einer neuen Skulptur, wie zum Beispiel eine schmale kantige Säule, die an eine schlanke Figur von Alberto Giacometti erinnert.
Dabei wirken die Werke abstrakt und doch scheint es, dass die argentinische Künstlerin sie gar nicht bearbeitet hat. Das Holz so gelassen hat, wie es in der Natur gefunden wurde. Tatsächlich handelt es sich um Findlinge, die sie mit der Hand dann aber doch möglichst sparsam bearbeitet. Die Skulpturen wirken herrlich organisch und unglaublich soft. Zudem hat Coloma Bänke und Hocker geschaffen, lädt zur Ruhepause inmitten ihrer Kunst. Auch ihre Papierarbeiten, die sie mit kleinen Cutouts versieht sind zauberhaft besonders. Nicht verpassen!
Galerie Klaus Gerrit Friese – Meierottostraße 1, 10719 Berlin
Die Galerien auf einen Blick, Öffnungszeiten bitte tagesaktuell erfragen:
Galerie Kewenig – Anmeldung erforderlich! Wilhelmshavener Str.7, 10551 Berlin
Galerie neugerriemschneider – Linienstraße 115, 10115 Berlin
Galerie Thomas Schulte – Charlottenstraße 24, 10117 Berlin
Galerie Esther Schipper – Potsdamerstraße 81e, 10785 Berlin
Galerie Judin – Potsdamerstraße 83 (Hof), 10785 Berlin
Galerie Plan B – Potsdamerstraße 77-87, 10785 Berlin
Galerie Max Hetzler – Goethestraße 2/3 und Bleibtreu 15/16, 10623 Berlin
Galerie Klaus Gerrit Friese – Meierottostraße 1, 10719 Berlin