Reisen zur Kunst im August

Es ist noch Zeit nach Kassel zu reisen. Gerade weil die documenta 15 nicht aus den Negativ-Schlagzeilen kommt, lohnt es, sich selbst ein Bild zu machen. Mehr Kunst gibt es in Altdöbern, Esch und Venedig zu entdecken. Unsere Reise-Highlights im Spätsommer.

written by Gastautorin Juliane Rohr 19. August 2022

1. documenta 15

Prolog

Dieser Sommer ist zu heiß, die Debatten entsprechend überhitzt. Die 15. Ausgabe der Weltkunstschau in Kassel ist in den Schlagzeilen – wenn man ehrlich ist, wie eigentlich jede Ausgabe zuvor auch. Trotzdem ist es dieses Mal anders und das Kreuzfeuer der Kritik hält an und an.

So wird das sicher nach der Halbzeit vergangene Woche weiter gehen. Auch wenn die Besucherzahlen mit 450 000 erstaunlich hoch, fast rekordverdächtig, sind, es nützt nichts! Der Antisemitismus-Eklat ist da und bestimmt diese documenta-Ausgabe.

Der Skandal um antisemitische Karikaturen des indonesischen Kollektivs Taring Padi, ein sehr verschnarchtes Krisenmanagement und die zu vielen offenen Fragen überschatten alles. UND: wir müssen genau hinschauen, gerade weil wir die historische Verantwortung unserer Geschichte tragen und Antisemitismus nicht zulassen können.

Blick auf den Friedrichsplatz mit dem grünen Embassy-Zelt von Ricard Bell

Aufregende Kunst

Die Fehler, die im Vorfeld der documenta, währenddessen und auch jetzt gemacht werden, möchte ich hier im Blog nicht erörtern. Schließlich können das Interessierte (leider fast) täglich in den Feuilletons quer durch die Republik nachlesen…

Die Ethik verdrängt die Ästhetik

stand in einem Kulturteil zu lesen. Und sprach mir aus der Seele. Denn alles hier gezeigte ist politisch aufgeladen.

Die Welt ist in Aufruhr und die Kunst ist es auch. Kommen wir also zur Kunst. Es gibt viele aufregende, weltoffene und großartige Kunstwerke zu sehen. Die gesamte documenta unter Generalverdacht zu stellen oder gar zu boykottieren ist meiner Meinung nach nicht das richtige Mittel der Wahl.

Daher mein Tipp: Hinfahren und sich geballt wie selten mit den Sichtweisen der Künstler:innen des globalen Südens auseinandersetzen. 1500 Teilnehmer:innen sind es am Ende, da das, die documenta kuratierende Kollektiv Ruangrupa wiederum Kollektive eingeladen hat. Die haben wiederum Kollektive eingeladen, die wiederum…

Das Ergebnis ist sehr viel Kunst an 32 Orten quer durch Kassel. Mut zur Lücke ist bei diesem Kunstmarathon angesagt.

Die documenta 15 gibt dem Hirn neues Futter und reichlich lohnenswerten Diskussionsstoff.

Also auf in die Kunst. Auf nach Kassel. Bis zum 25. September ist noch Zeit – täglich von 10 bis 20 Uhr.

Tourstart in Bettenhausen

Voodoo-Kunst in einer Kirche

Meine Empfehlung ist nicht wie üblich im Fridericianum und der documenta Halle zu starten, sondern die Schau von hinten aufzurollen: in Bettenhausen, wo ich sie am dichtesten fand.

Der ziemlich abgerockte Stadtteil Bettenhausen ist zum ersten Mal dabei. In zehn Minuten mit der Straßenbahn erreichbar (die Fahrt ist im Eintrittsticket enthalten). Ich habe in der Kirche St. Kunigundis gestartet. Dort geht es mit der Ghetto Biennale aus Haiti, einem der ärmsten Ländern der Welt, ziemlich geheimnisvoll und irgendwie auch humorvoll zu.  Die teilweise makabere Voodoo-Kunst des Kollektivs Atis Rezistans ist in den vergangenen Jahren in den Slums von Port au Prince entstanden.

Die Skulpturen aus echten menschlichen Gebeinen und Abfallmaterial wird nun in Kassel in der ehemaligen katholischen Kirche ausgestellt. Eindrucksvoll.

Oben hat übrigens Henrike Naumann gemeinsam mit dem Musiker Bastian Hagedorn eine „Orgel“ aus Schrankmodulen installiert. Die Lautsprecher beschallen den Sakralraum und machen den Besuch noch besonderer. Nicht verpassen.

Freunde finden in einer Fabrik

Weiter zum Hübnerareal, der ehemaligen Lagerhalle eines Bahntechnik-Herstellers. Hier kommt das Kopenhagener Kollektiv Trampolin Haus zu Wort. Sie geben den fast entrechteten Flüchtlingen in Dänemark eine Stimme.

Das Kollektiv Fondation Festival sur le Niger aus Mali will mit Musik, Theater und Prozessionen Menschen zusammenbringen. Freunde finden ist ein großes Thema der documenta. Daher kann man in der Kantine auch zwischen Kunst an einem chinesischen Buffet lunchen.

Yezi’s Restaurant liefert Essen in die Kantine des Hübnerareals. All you can eat für €20.

Highlight im Keller

Sebastian Diaz Morales und Simon Danang Anggoro versuchen direkt am Eingang der ersten Halle in mehreren Videoinstallation die künstlerische Praxis von Ruangrupa zu erklären.

Sehr poetisch und berührend fand ich die Arbeit des indischen Künstlers Amol K Patil im Untergeschoß. Die raumgreifende Installation ist ein faszinierender Mix aus Skulpturen, Malerei und Performance. Sehen und Hören, einfach toll, mein absolutes Highlight.

 Agitprop in einer Badeanstalt

Weiter geht es zu einem ehemaligen Bauhaus-Schwimmbad. Das Hallenbad Ost ist nicht nur wegen der Architektur ein Must-See. Hier stellt auf 600 Quadratmetern das für den Antisemitismus-Eklat sorgende Kollektiv Taring Padi aus.

Ihre für sie typischen Protestschilder, die auch an indonesisches Puppentheater erinnern, bevölkern bereits den Rasen vor dem Gebäude. Die Agitprop Kunst aus Indonesien ist hochpolitisch. Darüberhinaus dienen die Schilder auch als Schutzschild vor der Polizei. Das Kollektiv entstand 1998 aus einer Studenten-Protestbewegung gegen den Diktator Suharto.

In jedem Wimmelbild und Pappschild steckt eine Geschichte.

Die Malereien sind zum Teil naiv und ins karikaturenhaft Groteske gezogen. Muss man nicht mögen. Es ist dennoch spannend, krass bunt und irgendwie wird hier angewandte Kunst zur Waffe. Ihre Themen sind groß – sozial, politisch, kritisch – drehen sich um Globalisierung, Kapitalismus, Klimawandel oder Frauenrechte. Bittere Erkenntnis für Taring Padi: Hierzulande hört die Kunstfreiheit auf, wenn Antisemitismus im Bild ist.

Die agitatorischen Bilder von Taring Padi sorgen für Wirbel.

Fridericianum

Jetzt endlich geht es in die Innenstadt: Die Säulen des altehrwürdigen Fridericianums hat der rumänische Künstler Dan Perjovschi mit kritischen Parolen versehen. Und schafft damit so etwas wie die Essenz der documenta. Selten war soviel Kunst zu sehen, die sich mit den sozialen und politischen Problemen der Welt beschäftigt. Mehr von Perjovschi gibt es übrigens auf dem Bahnhofsvorplatz in Kassel-Wilhelmshöhe.

Gemalter Widerstand

Doch zurück in das erste öffentliche Museum, das 1779 eröffnet wurde. Dort finden sich viele Werke des Künstlers Richard Bell. Der Aborigini kämpft für die Rechte der australischen Ureinwohner und ist einer der wenigen bekannten Künstler dieser documenta. Seine krachbunten „Historypaintings“ sind Protest pur.

Sie zeigen Menschen des Widerstands, die in der weißen Gesellschaft nicht vorkommen. Vor dem Fridericianum ist eine mobile Botschaft der Aborigines aufgebaut. Das grüne Zelt ist seit 50 Jahren im Einsatz und hier ein trauriges Mahnmal, das auch von anderen Kollektiven für eigene Botschaften genutzt werden kann.

Vielstimmig

Ausserdem ist das Kollektiv Gudskul im Erdgeschoß zu finden. Sie kochen und schlafen hier, wollen auch neue Freunde finden. Hier kann ich indonesisch und ein neues Vokabular lernen, das mir auf der Schau immer wieder begegnet. Das Prinzip lumbung (Reisscheune) und harvest (Ernte) zum Beispiel. In der Kurzform: Der Erlös (die Ernte) von allem was verkauft wird, wird solidarisch geteilt.

Dem Kollektiv ist gerechte Verteilung wichtig.

Lokales Engagement und Partizipation werden gefördert. Und ja, der Besucher kann direkt kaufen…ob das geht, habe ich nicht ausprobiert.

Die documenta ist so was wie eine große Schule, die die Vielstimmigkeit des globalen Südens zeigt. Dabei werden in den meisten Kunstwerken vorhandene Machtstukturen und soziale Beziehungen hinterfragt.

Unbedingt in den Turm des Gebäudes steigen, den Dachboden und auch den Keller des Fridericianum nicht vergessen. Dort wartet besonders poetische Kunst.

Ein bisschen geärgert habe ich mich über die schlecht angebrachten oder gar nicht vorhandenen Erklärungen zu den Kunstwerken. Das Begleitheft zur Ausstellung muss immer griffbereit sein und trotzdem verliert man in der Vielzahl der Werke schnell den Überblick.

documenta Halle

In die documentahalle gehe ich durch einen Tunnel aus Wellblech mit Geräuschen aus Ostafrika und dann stehe ich in der vom kenianischen Kollektiv Wajukuu Art gestalteten Halle. Einfachste Materialien werden hier zu rätselhaft schönen Skulpturen.

Die kubanische Kollektiv INSTAR und die bekannte Künstlerin Tania Bruguera machen auf die anhaltende Zensur von Kunst in ihrer Heimat aufmerksam. Ihnen ist wichtig zu zeigen, dass Kuba eben nicht nur ein Urlaubsland ist, sondern die Menschen dort beständig unter Repressionen leiden.

Bruguera hat im übrigen den Arnold Bode Preis  2021 bekommen. Der wird alle zwei Jahre verliehen und ist mit 10 000 € dotiert.

Aus dem Gleichgewicht

Im untere Teil der Halle hat sich das Kollektiv Britto Arts Trust ausgebreitet. Es geht um faire und nachhaltige Herstellung von Lebensmitteln. Im Supermarkt ist die Ware aus Keramik, Bomben inklusive und die Fische wachsen aus Revolvern.

Das große Wandbild sieht aus wie ein Plakat für einen Bollywoodfilm, es geht aber um den Hunger in der Welt.

Das alles mag man platt finden, aber es ist dringlich.

Die Verschmutzung der Meere ist im Süden der Welt sehr, sehr präsent. Die Welt ist dort spürbar aus dem Gleichgewicht und die Zeit drängt.

Wer ein Skateboard dabei hat, kann hier durch die Halfpipe rauschen und das Board hinterher für Jugendliche in Bangladesh spenden.

documenta 15 & kein Ende

Am Ende der Halle lockt ein Garten samt Garküche. Wie schön könnte alles sein. Die Utopie der heilen Welt lebt hier für einen flüchtigen Moment auf. Hübsch gemacht.

Weiter geht es in die Karlsaue, wo die hinlänglich gezeigten Kleiderhaufen „Return to Sender“ vom Nest Collective eine wahrhaft deutliche Sprache sprechen.

Im Rondell wartet im Dunkeln eine wunderbar, erholsame Klang-Video-Installation von  Nguyen Trinh Thi.  Es gibt Kunst im WH 22, im Gloria-Kino, dem Stadtmuseum oder der Grimmwelt zu sehen. Ach, und im Ottoneum war eine beeindruckende Videoarbeit von Hito Steyerl zu sehen. War? Die in Berlin lebende Künstlerin hat sie im Zuge des Skandals zurückgezogen und abbauen lassen. Schade eigentlich.

Fazit zur documenta 15

Gemeinsam gärtnern, kochen, Skateboard fahren oder einfach nur chillen. Kunstwerke anschauen und sich die Frage stellen, ob das nun Kunst ist oder eben nicht. Ein

lohnenswerter Perspektivwechsel ist es allemal.

Denn das Museum für 100 Tage beleuchtet Verwirrendes und Unerklärliches. Es gibt Gegensätzliches und gemeinsames zu entdecken.

Manchen Kritikern wären mehr Kunst und weniger Worte im Fridericianum lieber gewesen.

Lohnenswert,

denn die nächste documenta gibt es, wie immer, erst wieder in fünf Jahren. Ob dieses Konzept wiederholt wird? Vermutlich nicht. Ein Kurator, der auf Kunst und Kontext achtet, scheint doch sinnvoll zu sein. Ich werde in jedem Fall wieder hinfahren und bin mir jetzt schon sicher:

die documenta 16 wird  inspirieren, überraschen und wieder verärgern, aber vielleicht mit etwas mehr wegweisender Kunst gefüllt sein.

Dennoch: Die Ausgabe Nummer 15 ist disruptiv, kämpferisch, verspielt, fordernd, mysteriös, lebendig, kritisch und kontrovers.

Kurz, es lohnt sich!

Verstecktes Highlight

Ach, in GÖTTINGEN findet sich im Kunsthaus des Verlegers Gerhard Steidl ein offizielles Partnerprojekt der documenta 15. Leider habe ich es noch nicht zu Printing Futures geschafft. Diejenigen aber, die da waren, berichten mir durchgängig begeistert. Vielleicht auch, weil einem Bekanntes wie Fotografien der Künstlerinnen Dayanita Singh gezeigt wird. Die Schau wird als heimlicher Star der documenta 15 gehandelt.

Lust auf mehr Kunst?

2. Rohkunstbau in Altdöbern

So gut, ist die gerade erst eröffnete Rohkunstbau. Zum 27. mal wird Kunst an einem vergessenen Ort in Brandenburg gezeigt. Dieses Mal geht es in den Oberspreewald-Lausitz nach Altdöbern. Genauer in ein Schloss, das nur selten der Öffentlichkeit zugänglich ist. Die historischen Räume werden seit 2015 saniert und sind nun halb fertig. Die Ausstellung unter dem Titel „Zukunft – ist Offene“ fügt sich grandios in die barocken, opulenten Räume.

Es gibt Videoinstallationen, augmented reality Arbeiten, Malerei und Skulpturen zu betrachten. Von namenhaften Künstlerinnen wie Katja Strunz, Cindy Sherman oder Rainer Fettig. Das Ganze läuft bis zum 30. Oktober, immer Samstag und Sonntags von 12 – 18 Uhr. Am besten ein Picknick einpacken – der Schlossgarten ist herrlich.

3. Esch – Kunstspot & Kulturhauptstadt

Jahrzehntelang war Esch-sur-Alzette in Luxemburg die Stahlstadt schlechthin. Inzwischen mausert sich der zweitgrößte Ort des Großherzogtums zum Kunstspot. Dank ausrangierter Orte, die geschickt transformiert werden.

Da ist zunächst die Konschthal. In einem ehemaligen Möbelhaus ist jetzt die Kunst zuhause. Derzeit rollen laut polternd fussballgroße Kugeln von Jeppe Hein über drei Stockwerke. Distance heißt die ortsspezifische Installation. Die Ausstellung Metalworks im oberen Stock des Gebäudes erklärt die Sache mit den Stahlmöbeln.

Transformation in Esch: Ein Möbelhaus wird Museum.

Neu aufgemischt

Durch das kleine Städtchen zieht sich der Skulpturenparcous Nothing is permanent. Im öffentlichen Raum geht es plötzlich um Vergänglichkeit und Variabilität. Die Werke von 23 bekannten und weniger bekannten Künstler:innen wie Tony Cragg, Stefan Rinck oder Katinka Bock regen zum Denken an.

Der Stadtteil Belval entwickelt sich mit seinen Hochöfen zum Wissenshub. Hier hat sich die Universität angesiedelt. Es mischen sich wissenschaftliche Lehre mit tollen Wohnungen, Kunst und Kultur. Und passt perfekt zum Motto Remix Culture, das sich Esch als Kulturhauptstadt 2022 auf die Fahne geschrieben hat.

4. Venedig

Die 59. Biennale läuft noch und ist in jedem Fall die Reise wert. Alles zu unseren Top Ten der Milk of Dreams von Cecilia Alemani findet sich bei uns im Blog und ist hier verlinkt. Die vielfältige Kunst in den Giardini und im Arsenale machen die Tage in der Lagunenstadt besonders spannend.

Einen großen Teil der Kollateral Events haben Natali und ich ebenfalls bereits Ende April besucht. Die Kunst von Anselm Kiefer, Anish Kapoor oder Louise Nevelson an bekannten Orten wie dem Dogenpalast, neu oder noch nicht renovierten Palästen und Gebäuden ist ein besonderes Highlight. Und Natalis liebstes während der Biennale.

Infos

Alles zur documenta 15 bitte hier und zum Kunsthaus in Göttingen.

Informationen zur 27. Rohkunstbau in Schloss Altdöbern sind hier zu finden.

Und hier die Verlinkungen zu Konschthal, dem SkulpturenparcoursNothing is permanent und Esch Kulturhauptstadt.

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