1. Hamburger Bahnhof – Katharina Grosse
Ein Bild ohne Rahmen
Was für ein großartiges Großprojekt: prächtige Farbexplosion, bunter Farbrausch, zauberhafte Farbwirbel – im Kunstsommer 2020 dreht sich alles um Katharina Grosse. Ihre Ausstellung It Wasn’t Us im und am Hamburger Bahnhof ist erlebbare, immersive Kunst auf seinem Höhepunkt. Wer sein Ticket online gekauft hat und das Museum betritt, schaut zunächst auf einen riesigen, hellgrauen Vorhang, der die Gebäude-Halle komplett vor neugierigen Blicken schützt. Es gibt nur einen schmalen Durchgang. Dahinter öffnet sich ein faszinierendes Farbrauschen, ein Bild, das den vorgegebenen Rahmen sprengt.
Immer neue Ansichten
Auf dem Boden der historischen Halle strömen die Farben ineinander, verschlingen sich und wirbeln in Richtung Hallenende. Sie wabern um und auf ein bis zu acht Meter hohes Gebirge. Das sieht aus wie Eisschollen, die sich hier jetzt wie auf einem Gemälde von Caspar David Friedrich ineinander schieben. Dieses Gebilde ist aus Styropor zum Teil sehr zart und fragil, dann wirkt es wieder wuchtig. Je nachdem, wo ich stehe,
wechselt sich die Perspektive und die eigene Dimension.
Mal bin ich Teil der Installation, mal schaue ich auf kleinste Farbpartikel, sehe, wie sich auch Farbe im kleinsten Raum ausbreitet.
Wenn ich über bunte Wolken laufe, tauche ich in Farbwelten ein, verliere mich in meinen ganz eigenen Assoziationen. Jeder Mensch sieht und empfindet anders. Die eine Farbe stößt eher ab, eine andere zieht sofort in den Bann und verzaubert. Blau oder Grün wirken anders als gelb, rot oder deep violett. Die in Berlin lebende Künstlerin hat monatelang mit ihrer Sprühpistole die Styroporkörper, den Boden des Museums, aber auch den Außenraum bearbeitet. Und das Ergebnis ist hinreißend.

Durch diese Tür geht es nach Draußen
Malerei auf Gebäuden, Straßen und Plätzen
Die Malerei von Katharina Grosse bricht aus dem Museum hinaus und ergießt sich auf den Platz dahinter. Strömt über die Straße, um den kleinen grünen Park herum und wandert schließlich die containerähnlichen Fassade der Rieckhallen empor. Ob sich diese Farbenpracht auch auf das Dach legt? Mit ihrer Malerei macht Grosse einmal mehr auf die prekäre Situation des Museums für Gegenwartskunst aufmerksam. Denn, wie inzwischen bekannt wurde, sind nicht nur die Rieckhallen, die einem Immobilieninvestor gehören, vom Abriss bedroht, sondern auch das Museum selber. Aber das ist eine andere Geschichte.
Die bunte Installation, die so leicht daher kommt, wurde am Modell im Berliner Atelier genauesten geplant. Viele Faktoren, wie Farbwahl, Wetter, Licht und Zeit werden schließlich zu diesem sehr wirksamen, wunderbaren, grenzüberschreitenden Bild. Klar, durch seine gewaltige Dimension taucht It Wasn’t Us derzeit überall in den Medien und sozialen Netzwerken auf. Selber erleben ist aber wirklich etwas anderes! Es ist ein Kunsterlebnis, das im Kopf bleibt auch, weil es sich mit jeder eigenen Bewegung verändert. Ich bin gespannt, wie sich diese monumentale Installation im öffentlichen Raum hinter dem Hamburger Bahnhof mit den Jahreszeiten verwandeln wird…

Schon faszinierend, als die Installation noch im Entstehen war
2. Matthäus-Kirche am Kulturforum – Leiko Ikemura
Fließende Farbwolken
Immer wieder überraschend anders begegnet mir die Kunst in der St.Mattäus-Kirche am Kulturforum. Zuletzt hatte Norbert Bisky mit seinen knalligen Bildern die Decke der Kirche bespielt. Jetzt ist Leiko Ikemura mit Praise of Light zu Gast. Mit Leichtigkeit versetzt auch sie mich in Staunen. Eine Videoschleife aus fließenden rosa, roten und blauen, zarten Farbwolken bespielt den Raum hinter dem Altar. Die Ausstellung ist ein Lob der Künstlerin an das Leben, das in Zeiten der Pandemie Schutzräume sucht.
Leuchtende Fenster
Lichtdurchlässig – und doch abgeschirmt von der lauten Welt da draußen – werden bei ihr die Fenster des Kirchenraums zu einer schützenden Membran. Auf Nesselstoff hat sie ihre abstrakten Bilder gemalt und an die Fenster montiert. Die anderen Scheiben drum herum sind mit Buttermilch bestrichen, so leuchten die schwebenden Farbschatten noch deutlicher. Milchglas ganz natürlich erzeugt – was für ein
herrlicher und so einfacher Effekt.
Etwas versteckt hinter einer Säule im Kirchenraum ist die Skulptur Schrei aus glasiertem Terrakotta plaziert. Sie erinnert an Edvard Munchs berühmtes Bild Der Schrei – nun ist das Gemälde dreidimensional geworden und nicht weniger beeindruckend. Eine sehr poetische, der Schönheit und dem Spirituellen gewidmete Schau. Mit etwas Glück findet beim Besuch gerade eine der angekündigten musikalischen Interventionen statt: in Berlin lebende Musiker*innen können tagsüber in der Kirche Flügel und Cembalo spielen.
3. Haus am Lützowplatz – Timm Ulrichs
Witzig, provokativ & poetisch
Rosen, Gullideckel, Kopfsteinpflaster, Stühle, Tätowierungen, Leuchtbuchstaben, Laufschrift, Worte – nichts ist vor Timm Ulrichs sicher. Er ist der Meister des scheinbar Banalen. Selber bezeichnet er sich als Totalkünstler, sieht sich seit 1961 als lebendes Kunstwerk. Als solches läuft er Mitte der 70er Jahre schon mal als Blinder über die Kölner Kunstmesse. Um den Hals ein Schild auf dem steht:
„Ich kann keine Kunst mehr sehen.“
Ulrichs Werke sind witzig, hinterfragen stets, was Kunst eigentlich ist. Er provoziert gerne, kann aber auch leise Töne anschlagen.
Allerlei Geisterblitze
Seine wunderbaren Mehrdeutigkeiten kann ich derzeit im Haus am Lützowplatz in seiner aktuellen Ausstellung ergründen. Der Titel lautet Ich, Gott und die Welt. 100 Tage – 100 Werke – 100 Autoren und bis zur Finisage am 2. August werden dort täglich neue Skulpturen, Bilder, Filme, Annagramme, Installationen und allerlei Geistesblitze in der Schau installiert. Verschiedene Autoren stellen das Werk dann vor. Schlicht auf einem an die Wand geklebten, gelben Zettel. Informativ, performativ – mal was anderes. „Mein Werk bin ich“, sagt Ulrichs über sich und dass er von 1000 Ideen, die er hatte, jede nur einmal realisiert hat. Er ist Vorreiter und Inspirationsquelle für viele Künstler – bis heute. Sehr spannend.
4. Museum Frieder Burda Salon Berlin – Annette Kelm
Kunstvolle Bücher
Auf die Suche nach dem, was zwischen zwei Buchdeckeln steckt, hat sich Annette Kelm mit ihrer Serie Bücher begeben. Im Salon der Museum Frieder Burda zeigt sie Fotografien von Büchern, die von den Nationalsozialisten als „undeutsch“ betitelt wurden. Da begegnen mir Klassiker von Kurt Tucholsky, Erich Kästner, Egon Erwin Kisch aber auch Oskar Maria Graf, Alfred Döblin oder Alfred Kerr. Literatur, die am 10. Mai 1933 von den Nazis auf dem Bebelplatz in Berlin verbrannt wurde. Dort erinnern leere, im Boden eingelassen Bücherregale an die Tat. Bis heute gibt es jedoch kein Archiv der damals verbrannten Bücher. Durch die Fotografien von Annette Kelm werden die Werke im Salon Burda zu Überlebenden und haben allen Widrigkeiten zum Trotz die Zeit überdauert.
Zeitgeist pur
Die Fotografin Annette Kelm hat nach vorhandenen Originalen gefahndet. Sie dann fotografiert und obwohl es ja dreidimensionale Objekte sind, sehr flach von oben inszeniert, immer auf weißem Hintergrund und mit minimalstem Schattenwurf. Interessant, dass nun die Umschläge der Bücher in den Vordergrund rücken. Sie spiegeln den Zeitgeist der Avantgarde der 1920er und frühen 30er Jahre wieder. Stellen den
Illustrator und die aufwändig gestalteten Cover in den Mittelpunkt.
Die haben während des Bauhaus, Konstruktivismus, Expressionismus und Strömungen wie Dada mit Typografie und Bildern experimentiert. Eine eindringliche, beachtenswerte Ausstellung.
Info
Katharina Grosse – It Wasn‘t Us
- bis 10. Januar 2021
- Sa und So 11 bis 18 Uhr
- Di bis Fr 10 – 18 Uhr Do bis 20 Uhr
- wegen Covid 19 bitte online-Slot buchen
Invalidenstraße 50-51, 10557 Berlin
St. Matthäus-Kirche im Kulturforum
Leiko Ikemura – In Praise of Light
- bis 13. September
- Di – So 11 bis 18 Uhr
- kein Ticket nötig wegen begrenzter Personenzahl kann es allerdings zu kurzen Wartezeiten kommen
Matthäikirchplatz, 10785 Berlin
Timm Ulrichs – Ich, Gott & die Welt.
- bis 2. August
- Mo – So 11 bis 18 Uhr
Lützowplatz 9, 10785 Berlin
Museum Frieder Burda Salon Berlin
Annette Kelm – Die Bücher
- bis 1. August 2020
- Do bis Sa 12 bis 18 Uhr
- bitte mit Voranmeldung wg. Corona-Hyiene-Maßnahmen
Auguststraße 11 – 13, 10117 Berlin